Abstracts Literaturwissenschaft

Abstracts der Vortragenden der Sektion Literaturwissenschaft

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Raccontare al ritmo dei passi:

Zum Zusammenhang zwischen Schreiben und räumlicher Fortbewegung in ausgewählten Werken der zeitgenössischen italienischen Literatur

Gerhild Fuchs (Innsbruck)

Im Zuge der grammatologischen Reformulierung von Konzepten sozial markierter Räume, die Michel de Certeau in L’invention du quotidien – Arts de faire (1980) vor­nimmt, kommt es zu einer Analogsetzung zwischen Sprechakt und Akt des Gehens: Ähn­lich wie ein Sprecher sich die „langue“ aneigne, lasse sich das Gehen als Prozess der An­eignung des topografischen Systems durch den Fußgänger beschreiben. Auf diese Weise erhält das Gehen bzw. erhalten Raumpraktiken („pratiques de l’espace“) bei de Certeau eine zentrale Bedeutung für den literarischen Diskurs und somit für das Erzählen von Geschichten. Insbesondere die Raumpraktik der Reise rückt hierbei in den Blickpunkt, de Certeau betrachtet sie als eine Art Fiktionserzeuger, während er andererseits die Be­deutungspraktiken (wie das Erzählen von Legenden etc.) als Raumerfindungspraktiken auffasst und dem Erzählen somit eine raumstiftende Funktion zuweist. Erzählungen werden von de Certeau, mit anderen Worten, als „parcours d’espace“ betrachtet.

Einen hermeneutischen „Mehrwert“ zeitigt diese Auffassung des narrativen Textes besonders in jenen Fällen, wo das Gehen tatsächlich eine zentrale Thematik darstellt und sein Zusammenhang mit dem Schreiben bzw. mit dem Entstehen von Geschichten im Text explizit verhandelt wird. Wie im geplanten Beitrag gezeigt werden soll, tritt dies auffallend häufig bei einer Reihe von zeitgenössischen Erzähltexten in Erscheinung, die den Raum der norditalienischen Poebene zum Schauplatz haben und diesen häufig auch zu einem zentralen Gegenstand der Beschreibung und Reflexion machen. Dabei treten bestimmte Typen von schreibenden „Ebenenwanderern“ auf, von denen drei besonders markante und repräsentative Ausprägungen einer genaueren Analyse unterzogen wer­den sollen:

  1.       der Typus des „Spaziersehers“ bzw. „Spazierdenkers“, der als beobachtender und die beobachteten Phänomene reflektierender sowie dokumentierender Ich-Er­zähler auftritt – so etwa in Guido Ceronettis Viaggio in Italia (1983) und Albergo Italia (1985), Gianni Celatis Verso la foce (1989), Ermanno Reas Il Po si racconta (1996);
  2.       der Typus des „Erinnerungsflaneurs“, ebenfalls ein Ich-Erzähler, bei dem jedoch der autobiographische Gestus im Vordergrund steht, da das Gehen bei ihm einen auf die eigene Vergangenheit bezogenen Erinnerungs­prozess auslöst – so etwa in Giulio Mozzis Fantasmi e fughe (1999), Vitaliano Trevisans I quindicimila passi (2002) und Un mondo meraviglioso (2003);
  3.       die Figur des heimatlosen Vagabunden oder, als besondere Variante, des umher­irrenden Wiedergängers aus dem Totenreich, deren Umherwandern zum hand­lungsimmanenten Auslöser für das Erleben von (zumeist fantastischen) Aben­teuern und das Erzähltbekommen von Geschichten wird – wie es in Ermanno Ca­vazzonis Poema dei lunatici (1987) oder (für den Fall der wiederkehrenden To­ten) in Daniele Benatis Silenzio in Emilia (1997) und Massimo Garutis Fantasmi di pianura (2001) der Fall ist.

Der Rhythmus des Erzählens im Italien der frühen Neuzeit

Judith Frömmer (München)

Im von Kriegen und Krisen gebeutelten Italien der frühen Neuzeit scheint nicht nur die politische und die militärische Ordnung der Stadtstaaten, sondern auch der Rhythmus des Erzählens aus dem Takt gekommen zu sein. Das gilt zum einen für die Geschichts­schreibung im Übergang vom 14. zum 15. Jahrhundert, in der sich Tendenzen einer Fragmentarisierung und einer Unabschließbarkeit historiographischen Erzählens be­merkbar machen. Das gilt zum anderen für das literarische und näherhin das epische Erzählen des sogenannten Rinascimento, das in seinen Versuchen einer Wiederbelebung der antiken und insbesondere der römischen Epik weder Ziel und Zentrum noch ein wirkliches Ende zu finden scheint. Bereits Petrarcas Africa blieb bekanntlich allen Vor­schusslorbeeren zum Trotz unvollendet. Diese Fragmentarisierung epischen Erzählens wird in Pulcis Morgante und Boiardos Orlando Innamorato zum bewussten Formprinzip erhoben, das mit neuartigen Verfahren narrativer Kohärenzstiftung durch Metalepse und spezifische Analogie-und Echoeffekte mehr oder weniger explizit auf eine aus den Fugen geratene Zeit reagiert. Ariostos Orlando furioso versucht diese neuen Formen nar­rativer Verkettung erneut in das harmonische Gefüge einer epischen Gründungserzäh­lung zu integrieren, die indes immer wieder die Kontingenz narrativer, politischer und weltanschaulicher Ordnung exponiert. Erst in Tassos Gerusalemme liberata scheint das frühneuzeitliche Erzählen wieder in den Rhythmus einer Marschordnung zu finden, in der poetische und politische Einheits-bzw. Vereinheitlichungsbestrebungen nicht ohne Spannungen aufeinandertreffen. Mein Vortrag versucht die Kategorie des Rhythmus für eine narrative Erschließung frühneuzeitlicher Geschichte(n) und die damit verbundenen Versuche fruchtbar zu machen, durch Erzählungen eine geordnete, bedeutsame Welt zu (re)konstruieren.

 

 

 „Ritmo“ und „immobilità“ in Savinios Prosa

 

Eva-Tabea Meineke (Gießen)

                                                                                  

Alberto Savinio reflektiert in seinen Primi saggi di filosofia delle arti über den Rhythmus in den Künsten. Der Rhythmus in Musik und Literatur spiegele das Leben, heißt es dort, er sei „riproduzione ideale del movimento naturale della vita.” Die Kunst impliziere Zeit, Bewegung und Werden („idea del tempo, del moto, del divenire“), die in Form von Rhythmus zutage treten. Doch komme sie auch dem Wunsch nach Dauer entgegen, „che viene a essere la più profonda e costante nostalgia dei mortali.“ Die plastischen Künste, in denen das zeitliche Moment ausgespart ist, würden ihrer Aufgabe am deutlichsten gerecht. Doch auch die Künste, in denen der Rhythmus vorherrscht, evozierten Dauer und Stillstand („immobilità“). Zum Dramatischen geselle sich hier das Lyrische („ele­mento lirico“), die geistliche oder metaphysische Seite der Kunst („lato spirituale o, per meglio dire, metafisico“).

In jedem Kunstwerk gehen laut Savinio dramatisches und lyrisches Element ein be­stimmtes Verhältnis ein. Der Dichter legt in seinen saggi aus, es könne sich in der Kunst nicht darum handeln, reinen Rhythmus darzustellen, da es unmöglich sei, diesem einen tieferen, rational fassbaren Sinn abzugewinnen. Savinio schreibt vernichtend: Il ritmo, cioè il movimento, esercita un fascino singolare sulle nature barbariche e comunque su quelle in cui l’attività sensuale sovrasta alla razionale.Andererseits könne ebenso we­nig reine „immobilità“, in Form von zum Stillstand gebrachter Bewegung, in der Kunst zu finden sein, da ansonsten der Prototyp des Kunstwerks die versteinerten Leichen aus Pompeji seien.

Welches Verhältnis „ritmo“ und „immobilità“ in Savinios Prosa eingehen, soll anhand seiner Tragedia dell’infanzia (1920, veröffentlicht 1937) untersucht werden. Dort ist aus der Perspektive des Kindes eine neue Welt erfahrbar, die ansonsten nur dem Dichter zugänglich ist und dem verlorenen Paradies gleicht. Dem Vergehen der Zeit sowie der stets enttäuschten Hoffnung ist Einhalt geboten. Die dem Tode vergleichbare Dimension wirkt allem voran durch ihre „Unabänderlichkeit“ angenehm und erstrebenswert. Und doch ist auch Bewegung zugegen und es entsteht ein Wechselverhältnis aus Gleichför­migkeit und Rhythmus.

Wie schlagen sich „ritmo“ und „immobilità“ inhaltlich und formal in Savinios Werk nieder? Wodurch wird die „immobilità“ in der Prosa, die ja an einen zeitlichen Ablauf gebunden ist, evoziert? Inwiefern wird die Linearität der Zeit in der Tragedia überwun­den und welche Rolle spielt diesbezüglich der Rhythmus?

Savinio setzt in seinem Werk die Wahrnehmung einer sensiblen Natur (eines Kindes oder Dichters) in Szene und reagiert damit auf die literarischen Bedürfnisse seiner Zeit, die dem modernen Schnelligkeitswahn und der Kontingenz anheim zu fallen scheint. Anhand der Bedeutung des Rhythmus soll die Darstellung dieser ästhetisch bedeutsa­men Perspektive untersucht werden.

Rhythmus durch „Tempo“: Zeitrelationen als strukturierende Elemente
in Giambattista Marinos Epos Adone (1623)

Stephanie Neu (Hamburg)

In Giovanni Gettos einflussreicher Studie Barocco in prosa e in poesia begegnet man einer Einschätzung des Adone, die Giambattista Marinos mythologischem Epos Hand­lungsarmut attestiert – es „passiere“ einfach nichts:

L’Adone non si ricorda come un animato intreccio di vicende, così come invece si pensa al Furioso, e non si ricorda nemmeno come una serie di umanissimi volti, così come ci si raffigura la Gerusalemme. La fragile linea di sviluppo di questa storia d’amore sembra accadere fuori dallo spazio e dal tempo: e più che una storia è un idillio breve, un vagheggiamento delizioso che non sembra avere sviluppo […]. (Getto 22000, S. 31)

Dieses Urteil steht paradigmatisch für eine Lesart des Adone, die sich auf die Ebene der elocutio konzentriert: Angesichts des Reichtums an concetti, Allegorien, Metaphern, in­geniösen Vergleichen und der „decorazione sovraccarica e smagliante“ (Getto 22000, S. 32) treten sowohl histoire als auch discours scheinbar in den Hintergrund.

Im Rahmen des Vortrags soll anhand der Untersuchung temporaler Aspekte der Nachweis erbracht werden, dass der erste Eindruck einer alles beherrschenden Orna­mentik den Blick auf die Handlungsstrukturen des Adone verschleiert. Hier stellt sich     u. a. die Frage, ob deskriptive Passagen, die generell mit Pausen auf der Ebene der histoire assoziiert werden, nicht ebenfalls für ein Fortschreiten, für Geschwindigkeitseffekte sor­gen können: „[…] it may become possible to rethink the relationship between action and description, which are now completely separated. In discussions on speed, we focus on ‘action’, never on ‘description’, whereas there can be ‘hasty’ descriptions, or descriptions generating their own speed and rhythm effects […].“ (Baetens/Hume 2006, S. 354)

Methodisch erfolgt eine Kombination von Genettes Kategorien „Ordnung“, „Dauer“ und „Frequenz“ mit Paul Ricœurs Ansatz einer Relation zwischen kulturellen Zeiterfah­rungen und ihrer Darstellung im Text, wie sie u. a. Nünning/Sommer (2002) vorschla­gen. Ein solches Vorgehen eröffnet die Möglichkeit, zunächst die Zeitdarstellung im Adone zu erfassen und sie danach sowohl mit Zeitvorstellungen in Wissenschaft und Philosophie des Seicento als auch mit Gattungskonventionen – u. a. des Epos – in Rela­tion zu setzen.

Baetens, Jan & Kathryn Hume (2006): „Speed, Rhythm, Movement: A Dialogue in K. Hume’s Article ‘Narrative Speed’“, in: Narrative 14 , S. 349-355.

Getto, Giovanni (22000 [1969]): „Barocco in prosa e in poesia“, in: ders.: Il Barocco lette­rario in Italia, Milano (Mondadori).

Nünning, Ansgar & Roy Sommer (2002): „Die Vertextung der Zeit: Zur narratologischen und phänomenologischen Rekonstruktion erzählerisch inszenierter Zeiterfahrun­gen und Zeitkonzeptionen“, in: Middeke, M. (Hrsg.): Zeit und Roman. Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahr­hundert bis zur Postmoderne, Würzburg (Königshausen & Neumann), S. 33-56.

Zyklus und Kadenz bei Vincenzo Cardarelli

Kai Nonnenmacher (Regensburg)

“[…] | stagione estrema, che cadi | prostrata in riposi enormi, | dai oro ai più vasti sogni, | stagione che porti la luce | a distendere il tempo | di là dai confini del giorno, | e sembri mettere a volte | nell’ordine che procede | qualche cadenza dell’indugio eterno.” (Vincenzo Cardarelli, “Estiva”)

Dass William Marx’ Monographie zu den konservativen Arrière-Garden des 20. Jahrhun­derts auf Vincenzo Cardarelli verweist (Marx 2004, 203), ist durch politische (Burdett 1999, D’Alterio 2005), aber auch ästhe­tische Positionen nachvollziehbar: Mit einem Text von Cardarelli beginnt im April 1919 die erste Lieferung von La Ronda,einer Literatur­zeitschrift, deren Redakteure (neben Cardarelli: R. Bacchelli, E. Baldini, B. Barilli, E. Cec­chi, L. Montano und E.A. Saffi) anstelle sozialen Engagements Stilfragen und einen Klas­sikerkanon ins Zentrum ihres Interesses stellt, eine „Rückkehr zur Ordnung“ (Lentzen 1994, 84). Zur Fremdcharakterisierung als „poeta discorsivo“ betont Cardarelli die rhythmischen Formfragen seines Dichtens: „E che la mia poesia ‘discorra’ non c’è dub­bio. Anzi corre precipitosamente allo scopo, con un ritmo che non ammette divagazioni, non concede indugi, quantunque non sempre in modo graduale e pacifico.“ (Cardarelli 1981, 695; cf. Luti 1989, 803)

Cardarellis Stilbegriff beinhaltet grundlegende Reflexionen zur Rhythmisierung, so gründet seine Pascoli-Kritik insbesondere auf dessen metrische und rhythmische Män­gel (vgl. Luti 1989, 813). Cardarelli betont zugleich die Beziehung rhythmischer Pro­zesse in der Natur zur Rhythmisierung seiner Texte – so endet das Gedicht Natura mit einer poetologischen Reihung, einer Rückkehr zur ‘reinen’ Kunstform, die sich ebenso gegen das Verständnis der Futuristen wie des Kritikers De Sanctis richtet: „Ritmo, vergi­nità, perfezione“. Anhand ausgewählter Gedichte fragt der hier skizzierte Beitrag nach dem thematisch-formalen Verhältnis zweier rhythmischer Figuren Cardarellis: mythi­sierend-natürlichen Zyklenbildungen einerseits und andererseits Kadenzierungen, die im Gedicht Fuga als Aufstiege zur Form und Abstiege zum Chaos eine rhythmische Formtheorie begründen.

Burdett, Ch.Vincenzo Cardarelli and His Contemporaries. Fascist Politics and Literary Culture, Oxford 1999.

D’Alterio, D.: Vincenzo Cardarelli sindacalista rivoluzionario. Politica e letteratura in Italia nel primo Novecento, Rom 2005.

Lentzen, M.: Italienische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Von den Avantgarden der ersten Jahr­zehnte zu einer “neuen Innerlichkeit”, Klostermann 1994.

Leuschner, P.E.: „Vincenzo Cardarelli: Settembre a Venezia / September in Venedig“, in: Italienisch, Bd. 48, November 2002, S. 66ff.

Luti, G.: Storia letteraria d’Italia, Piccin 1989.

Marx, W.: Les arrière-gardes au XXe siècle. L’autre face de la modernité esthétique?Paris 2004.

Meter, H.: “Vincenzo Cardarelli: Autunno veneziano”, in: Italienische Lyrik in Einzelinter­pretationen, hrsg. v. M. Lentzen, Berlin 1999, S. 79-87.

Risi, R.: Vincenzo Cardarelli prosatore e poeta, Bern 1951.

Savoca, G.: Concordanza delle poesie di Vincenzo Cardarelli. Concordanza, liste di fre­quenza, indici, Firenze 1987.

Wais, K.: “Drei Typen stilistischen Verhaltens in der italienischen und deutschen Gegen­wartslyrik. Bemerkungen zu Vincenzo Cardarelli”, in: Syntactica und Stilistica, hrsg. v. E. Gamillscheg, G. Reichenkron, Tübingen 1957, S. 625ff.

La figura retorica principe del cinema.

‚Rhythmus’ als Kategorie und Verfahren in der italienischen Cinematographie

Angela Oster (München)

In den sechziger Jahren wurde das Kino weitgehend von der Fachrichtung der Semiotik bestimmt. In Italien diskutierten namhafte Regisseure und Wissenschaftler (vor allem an der medienwirksamen ‚Tavola rotonda’ in Pesaro) über Möglichkeiten und Grenzen der Zeichenhaftigkeit der Cinematographie. Unter ihnen befanden sich u.a. Pier Paolo Pasolini und Umberto Eco, die sich eine engagierte Fehde lieferten über die Konstruiert­heit oder ‚Natürlichkeit’ des Films als Kunstverfahren. In seinem Buch Empirismo eretico bringt Pasolini die Kategorie des ‚ritmema’ als „la figura retorica principe del cinema“ in die Diskussion ein. Auf der metatheoretischen Ebene, so Pasolini, strukturiere das ‚Rhythmem’ Filmbilder als eine „lingua spaziale-temporale, e non audio-visiva“. Und in der filmtechnischen Praxis manifestiere sich das ‚ritmema’ als Organisator der zeitlichen und räumlichen Verhältnisse der einzelnen Einstellungen untereinander.

Pasolinis Entwürfe erregten sogleich den vehementen Widerspruch der semiotischen Fachleute. Der Regisseur ließ sich davon nicht beirren. Er insistierte vielmehr auf dem Faktum, dass der Rhythmus – unbemerkt von den Kinotheoretikern – längst zum domi­nanten Prinzip des modernen italienischen Films und von Texten über das Kino avan­ciert sei. Der Vortrag wird untersuchen, inwiefern die These Pasolinis zutreffend war und ist. Ausgehend von der Kinotheorie Pasolinis wird die Umsetzung des ‚ritmema’ in seinem Film Teorema (1968) und über die – für das ‚ritmema’ prägenden – sechziger Jahre hinaus abschließend stichprobenartig in Cinema Paradiso (1988, Regie: Tornatore) und in Il miracolo (2003, Regie: Winspeare) analysiert.

Folgende Leitfragen bilden den methodischen Hintergrund des Vortrags:

  •       Inwiefern ist der Rhythmus als Ordnungsprinzip im Film überhaupt wahrnehm­bar?
  •       Gibt es – über den Text des Drehbuchs hinaus – einen spezifischen Sprachrhyth­mus, der die Konstruktion der Filme prägt?
  •       Finden die Deleuzeschen Vorschläge zum arretierbaren Zeit-Bild bzw. zum flie­ßenden Bewegungsbild im italienischen Film eine Resonanz?
  •       Wie werden die traditionellen Strukturen der Sukzessivität und Simultaneität ausgehend vom Rhythmus neu les- und wahrnehmbar?
  •       Entfalten maßgebliche Strukturen des Films wie Periodizität, Iteration, Montage, Perspektivik im Fokus des Rhythmus neue Valenzen?
  •       Inwiefern ist der Begriff der ‚Textur’, der im italienischen Film eine zentrale Rolle spielt, mit dem Ordnungsprinzip des ‚ritmema’ vernetzt?

 “Sì come colui che” – Il ritmo lento del Decameron

 

Daniela Pirazzini (Bonn)

 

Il ritmo lento è tipico della prosa sintattica del Decameron. Nella costruzione ipotattica, che determina l’armonia lenta dell’intero periodo, va notato il ricorso larghissimo all’uso della proposizione causale introdotta da sí come in combinazione con un pronome (del tipo colui colei, uomo, quello, quegli, egli, ella, io, noi) seguito dal pronome relativo che. Si tratta di una delle strutture più tipicamente praticate nell’italiano antico. Riportiamo qui di seguito due esempi illustrativi:

 

Boccaccio, Decameron, c. 1370 [X, 4 | page 655]

3  assai ve n’ eran che lei avrebbon detto colei chi ella era, se lei per morta

4  non avessero avuta. Ma sopra tutti la riguardava Niccoluccio, il quale,

5  essendosi alquanto partito il cavaliere, sì come colui che ardeva di

6  sapere chi ella fosse, non potendosene tenere, la domandò se bolognese

7  fosse o forestiera. La donna, sentendosi al suo marito domandare, con

8  fatica di risponder si tenne: ma pur per servare l’ ordine posto tacque.

 

Boccaccio, Decameron, c. 1370 [III, 9 | page 244]

10  per questo aver legittima cagione d’ andare a Parigi, ma, se quella infermità

11  fosse che ella credeva, leggiermente poterle venir fatto d’ aver

12  Beltram per marito. Laonde, sì come colei che già dal padre aveva

13  assai cose apprese, fatta sua polvere di certe erbe utili a quella infermità

14  che avvisava che fosse, montò a cavallo e a Parigi n’ andò. Né

 

La combinazione sí come si è fusa in un unico segno linguistico siccome che nell’italiano di oggi introduce una proposizione causale di regola anteposta alla reggente. Il valore comparativo, che tale combinazione aveva in origine (Battaglia, Serianni), soppravvive modernamente solo nella combinazione cosí come. Nell’edizione critica del Decameron curata da Branca non compaiono né la forma siccome, né la combinazione cosí come, mentre si attestano 351 forme (OVI) di sí come in combinazione con un pronome (neu­tro, dimostrativo, personale ecc.) seguito dal pronome relativo che. Una lettura appro­fondita degli esempi dimostra che le proposizioni introdotte da tali combinazioni mar­cano due diverse funzioni della proposizione, vale a dire la funzione causale e in alcuni casi, piuttosto rari, quella comparativa.

Formuliamo quindi l’ipotesi che tali forme possano essere all’origine della funzione causale dell’odierno siccome e che di conseguenza tale forma in origine non avesse solo valore comparativo, come sostenuto da Serianni, Moretti, Ulleland, bensì anche e soprat­tutto valore causale. Lo studio di tale struttura è nuovo, dato che fino ad oggi gli studiosi hanno rivolto la loro attenzione alle forme del tipo come colui cheannoverate da Ulle­land (1961 : “Io canto come colui che …, in: Studia Neophilologica XXXIII, 329-334) tra le strutture comparative e da Serianni 1989 tra quelle causali, citando l’esempio: “andava di giorno in giorno di male in peggio come colui che aveva il male della morte” (Decame­ron I, 1). Si è tralasciato sorprendentemente l’analisi di sì come (colui, ecc.) che, al quale dedichiamo il nostro contributo che si pone come scopo anche quello di mostrare come l’uso di tale struttura incastrata nel periodo ipotattico sia atta a rallentare il ritmo dell’intero periodo al fine di mettere in evidenza il motivo che ha condotto all’azione descritta.

 

 

Der augustinische Rhythmus des Trecento

Ludger Scherer (München)

Die herausragende Bedeutung von Aurelius Augustinus für die philosophische und lite­rarische Kultur des Trecento ist offensichtlich, wobei natürlich in erster Linie an seine Confessiones zu denken wäre. Diese stellen bekanntermaßen für Dantes Commedia und darüber hinaus für sein gesamtes Werk einen omnipräsenten Referenztext dar, was in noch stärkerem Maße für Petrarca gilt. Damit sind die Bezüge zwischen den Schriften Augustinus’ und den beiden konkurrierenden corone fiorentine jedoch noch nicht er­schöpft. In Bezugnahme auf das Kongreßthema Testo e ritmi soll hier nach dem Verhält­nis von Augustinus’ dialogischem Traktat De musica, der eine breite Rezeption im euro­päischen Mittelalter erfahren hat, und den poetischen Werken und poetologischen Äußerungen Dantes und Petrarcas gefragt werden, was bislang in der Forschung nicht ausreichend berücksichtigt wurde. In seiner musiktheoretischen Schrift behandelt Augustinus den Rhythmus sowohl unter metrischen – sprachlichen und musikalischen – wie philosophisch-theologischen Aspekten und verbindet damit in einzigartiger Weise antike Überlieferung und christliche Weltordnung. Gerade diese Schwellencharakteris­tik bietet einen guten Anknüpfungspunkt für die Untersuchung expliziter und impliziter Bezüge zur augustinischen Rhythmustheorie im Werk Dantes und Petrarcas, der beiden unterschiedlichen Erneuerer der studia im Trecento zwischen Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit.

Ritmo e FuriaUn confronto fra l’opera letteraria e quella artistica di Michelangelo attraverso la nozione di ritmo.

 

Oscar Schiavone (Florenz / Bonn / Paris)

 

La creazione artistica, qualunque essa sia, dipende dal ritmo, dalla sua dinamica interna: in poesia il ritmo visivo delle immagini si integra a quello della frase sonora, nelle arti figurative le forme rispondono a un ritmo spaziale. Nelle Rime Michelangelo si sforza di dare corposità al movimento del pensiero attraverso il dinamismo della frase lirica. Le sue contorsioni linguistiche derivano in gran parte dall’utilizzo sovrabbondante di pro­nomi deittici che sono usati in funzione di rimando, per far rimbalzare un concetto quando questo si affievolisce. Essi spostano continuamente l’oggetto menzionato verso un piano astratto, cancellando la chiarezza di un discorso lineare. A questo si possono associare le molte poesie che iniziano con una particella negativa o con una ipotetica. In questi casi il pensiero si incanala proprio in un movimento a spirale che solitamente parte da una negazione di condizioni presenti o da un’ipotesi improbabile, per culminare nell’explicit del componimento. È proprio il movimento ascensionale verso un culmine che caratterizza molte poesie e che è frutto della medesima sensibilità che privilegia la fiamma montante della figura serpentinata.

La critica di ogni tempo ha tanto avversato il ritmo afono e tormentato, quasi sinco­pato, delle Rime, ma lo ha messo da sempre in rapporto con la sinuosità delle linee scul­toree, con la “furia della figura”, che diviene norma per la creazione artistica e per la ma­nipolazione del materiale poetico. Ma far discendere un tipo stilistico da un modo carat­teriale (la temuta “terribilità” del Buonarroti) significa in altre parole rintracciare un ritmo in Michelangelo che abbia una base, un’origine mentale. La psicanalisi ci dice che l’individuo ha bisogno di schemi e di ritmi per orientare ogni momento della sua vita intellettiva. È chiaro, allora, che questi saranno poi codificati in norma nella vita attiva, la quale comprende anche l’ambiguo sottoinsieme dei prodotti della personale creatività, addirittura soggetti a leggi retoriche.

Il mezzo migliore per rilevare un ritmo comune tra arte e poesia in Michelangelo è andare a guardare il movimento: di figure in una rappresentazione spaziale, retorico in una rappresentazione verbale. Proprio il Rinascimento sviluppò l’interessante intuizione secondo cui il movimento corporeo in una rappresentazione è portatore di un significato verbale, tanto più preciso quanto più è consono alla gestualità della figura: i moti del corpo riflettono con perspicacia, se ritratti adeguatamente (“soggetti ai numeri che biso­gna chiamare ritmi e misure” secondo il Platone di Fil., 17d), i movimenti dello spirito, ovvero gli affetti o le “affezioni”. Da questo dibattito, che affonda nel mondo classico dell’ut pictura poesis, arriva a Michelangelo la nozione di ritmo, da individuare nel mo­vimento concorde di moto corporeo delle figure e significato discorsivo che esse por­tano. È un ritmo che si sostanzia del contrapositum: la reazione di elementi antitetici o la compensazione degli opposti in una lotta che avviene sia nell’arte che nella poesia del Maestro.

 

 

 Momento buono – tempo frazionato – destinoZum Verhältnis von verkörperter, rhythmisierter und messbarer Zeit in Alessandro Bariccos City

Esther Schomacher (Bochum) / Jan Söffner (Berlin)

 

Mit dem Problem der Zeit möchten wir ein bislang von der Forschung vernachlässigtes Thema des 1999 erschienenem Erfolgsromans City in den Blick nehmen, das sämtliche Binnenerzählungen des Romans durchzieht: Das Konzept einer linear ablaufenden Zeit, in der sich ein den Figuren vorherbestimmtes Schicksal erfülle, wird so zur ‚abhanden gekommenen‘ Zeit eines Wild-West-Städtchens sowie zur rhythmisierten Zeit von drei Minuten Kampf und einer Minute Pause im Boxsport in Beziehung gesetzt.

Was in den verschiedenen ‚Fiktionen in der Fiktion‘ seine produktive Auspondierung zu erfahren scheint, ist – so die Ausgangsthese unserer Arbeit – das mehrfach gebro­chene Verhältnis zwischen körperlichem Erleben von Zeit und den jeweils durch Vor­stellungen teleologischer Zukunfts-Ausrichtung geprägten Zeit-Ordnungen (Chronoto­pen). Im Rückgriff auf Zeit-Konzeptionen einer Phänomenologie des ‚embodiment‘ wird ersteres als Erleben raumzeitlicher Relationalität und körperlicher Ausgesetztheit fass­bar, das mit Vorstellungen einer messbaren, objektiven, euklidischen Zeit kollidiert und die intrinsische Gebrochenheit dieser Ordnungen demonstriert.

Die paradoxe Interrelationalität dieser Zeitlichkeiten wird in den verschiedenen Box­kämpfen auf den Punkt gebracht, in denen sich – als eine der Fiktionen zweiter Ebene – die Karriere eines angehenden Weltmeisters entfaltet: Hier scheint die klare Unter­scheidbarkeit zwischen messbar euklidischer und erlebter Zeit im Rhythmus geradezu aufgehoben zu werden. Chronotopisch steht der regulierten Zeit von Runden und Pau­sen im Boxen das Ziel beider Sportler gegenüber, den Gegner „out of time“ (Joyce Carol Oates) zu schlagen. Im Phänomenalen wiederholt sich das Paradox: Ein Boxerkörper ist durch eine präzise, objektive Zeitmessung (3 Minuten-1 Minute) rhythmisch habituali­siert: Uhr und Rundengong sind so unabkömmliche Voraussetzungen nicht nur der Kämpfe, sondern auch jeden Trainings, dass ihr Rhythmus genauso phänomenal verkörpert wird wie die körperlichen Rhythmen (vor allem Puls und Atem). Kopräsent mit dieser Rhythmisierung des körperlichen, raumzeitlichen Erlebens ist aber auch sein Gegenteil. Effektives Boxen basiert auf a-rhythmischem Verhalten (rhythmisierte Schläge wären voraussehbar und also ineffektiv); und auch die zwischenkörperliche Phänomenalität einer kinästhetischen Raumzeit zielt auf ihre eigene Aufhebung im Knock-Out.

Ein besonderes Augenmerk soll auch auf die Durchbrechung zeitlicher Abläufe in Momenten gelenkt werden, die dazu beitragen, die unterschiedlichen Binnenerzählun­gen und die Fiktion erster Ebene in ihrer zeitlichen Struktur zu (de)synchronisieren. Die „momenti buoni“ nämlich, in denen die Zeit-Wahrnehmung von einem Modus in den an­deren kippt, in denen vor allem zeiträumliche Relationalität einer distanzierten Beob­achtung von Raum und Zeit weicht – und umgekehrt. Wir möchten sie auf die Begriffe des Kairos und der Tyche bringen: Beide ereignen sich im Modus des Einbrechens einer vermeintlich unangemessenen Zeitlichkeit – und also gewissermaßen als chronotopi­sche ‚Fehlleistungen‘. Im Fall der Tyche bietet die einbrechende Zeitlichkeit lediglich un­vorhergesehene, überraschende Handlungsmöglichkeiten. Im Fall des Kairos ist sie ge­radezu undenkbar – ihr eignet damit ein revelatorisches Moment, das sich oft in Form eines sensomotorisch-emotionalen ‚Verstehens‘ äußert, welches dem konzeptuellen Verstehen vorausgeht und es unterläuft.

“Il ritmo della snaturalità” – Versuch über Ruzantes Komik

 

Klaus Semsch (Düsseldorf)

Das italienische Rinascimento ist eine wichtige kulturhistorische Übergangszeit. Von der mittelalterlichen Kosmologie der christlichen Bannung des menschlich Unfassbaren und Unbeherrschbaren in einer Ethik numerischer Ordnung und Symbolik gelangt der Hu­manismus nach und nach zum Anliegen einer zwar geordneten aber unaufhaltsamen Entdeckung weltlicher und das heißt vor allem menschlicher Vielfalt. Pomponazzi for­muliert dieses Anliegen in seiner Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele als ethi­sches Ideal einer „Verschiedenheit in gehörigem Maße“. Dabei werden die diversen Be­gabungen des Individuums von der praktischen Frage nivelliert, inwieweit ein Mensch in einer bestimmten Situation tugendhaft oder aber lasterhaft handelt. Ob ein Mensch das Zeug zum Metaphysiker oder Schmied habe, liege in seiner individuellen Begabung und lasse sich nur bedingt beeinflussen, so Pomponazzi. Da alle aber gleichermaßen an der praktischen Vernunft teilhaben, obliege dem Menschen sehr wohl die Herrschaft und somit auch die Verantwortung über den Bereich des sozialen Handelns. Neben die­ser neuen Pflicht zu sozialem Handeln aber wird der babelische ‚Sündenfall’ weltlicher Vielfalt in einen geordneten Kulturraum transponiert, in dem er sich beschwingt äußern darf: als bedenkenlose Freude und Genuss an der großartigen Schöpfung.

Die beiden angesprochenen Aspekte, d.h. die Frage nach Tugend und Laster einer Person im Alltag wie der Bedarf an einem kulturellen Freiraum (oder Unort) inszenierten Frohsinns sind nun aber die beiden zentralen Anliegen einer Gattung, die im frühen Cin­quecento einen großen Aufschwung erlebt: die Komödie. Die komische Gattung favori­siert eine dialogische Welterschließung. Die christliche Symbolik der Dreizahl, die recht problemlos auf den Diskurs juristischer bis philosophischer Dialektik übertragbar war, weicht dabei einer strengen Logik der Zweizahl. Nur als dialogisierendes Paar vermögen die dramatis personae sich ihre Gemeinschaft gut zu ordnen. Das Hauptthema der Liebe bringt in der dritten Figur des Liebhabers das komische Hindernis par excellence auf die Bühne, lebt aber von der Rückkehr zur dualistischen Ordnungsstiftung in der finalen Stärkung des Paares bzw. in der Eheschließung. Die antikisierende Komödie spielt zwar mit dem Gefallen an Pluralität, führt sie aber stets zurück zu dem überschaubaren Ethos des Paares.

Das Komische erweist sich so selbst als ein spezifischer Rhythmus der vorüber ge­henden Abweichungen, Verzerrungen und Brüche. Die Stücke des Paduaners Angelo Beolco, genannt Ruzante, zeigen dies in besonders eindrucksvoller Weise. Die Figur des villano Ruzante ist in besonderem Maße von der Ordnung des Dualen abhängig. Sei es als Soldat, dessen Trauma sich der neuen Kriegsführung verdankt, in der nicht mehr Mann gegen Mann, sondern jeder Einzelne einem ganzen Heer gegenüber steht. Sei es als verlassener Ehemann, der auf die wachsende Ökonomisierung ehelicher Verbunden­heit mit einer überholten Ehemoral bzw. mit Aggressivität reagiert. Sei es nicht zuletzt als Landarbeiter, den die existentielle Not in die komplexe Urbanität Venedigs ver­schlägt. Entfremdung und Frust des villano stehen dabei Ruzantes Bekenntnis zu Natur­haftigkeit (snaturalità) und allegrezza gegenüber. In diesem dramatischen Raum entwi­ckeln die einzelnen Stücke ihr ganz eigentümliches rhythmisches Kontinuum, in dem Gattungsbrüche, -parodien aber auch die beiden Grundelemente des Lachens (Superiori­tät und Inkongruenz) wie der damaligen Poetik der Komödie (das Hässliche und das Überraschende (admiratio), bei Maggi, Trissino, Minturno, Robortello u.A.) eine auf­schlussreiche „Subjektivierung in und durch die Sprache“ erzeugen. In eben diesem Sinne definiert Henri Meschonnic in seiner Critique du rythme (1982) ein jüngeres, anthropo­logisch gefasstes Begriffsverständnis von Rhythmus, das uns hier als Diskussionsbasis dienen soll.

Rhythmen des Textes – Rhythmen des Begehrens:

Zur Polyrhythmik in Francesco Petrarcas Canzoniere

Barbara Ventarola (Würzburg)

Der Canzoniere Francesco Petrarcas kann als erster nachantiker Text gelten, in dem der Rhythmus nicht nur ein zentrales kompositorisches Prinzip darstellt, sondern der durch eine extrem komplexe polyrhythmische Gestaltung geprägt ist. Mit dieser spezifischen poetischen Textgestalt reflektiert Petrarca in besonderer Weise die Nutzungsmöglich­keiten und Funktionen des Rhythmus für die literarisch-sprachliche Sinnkonstitution. Indem er – unter Verzicht auf einen einigenden Prosatext – mikrostrukturelle Prinzipien der Gedichtanordnung mit einer überwölbenden quasi-autobiographischen Chronologie verbindet, bringt er Zeit und Bewegung in seine Gedichtsammlung ein. Diese Integration einer dynamischen Zeitdimension führt dazu, dass alle Parameter der poetischen Sinn­konstitution rhythmisiert werden – und zwar dezidiert über die Gedichtgrenzen hinweg. Neben die Polymetrik tritt damit die gedichtübergreifende Rhythmisierung der Isoto­pienkerne, der Metaphorik, der Perspektivenstruktur und der moralischen und affekti­ven Bewertungswechsel. Die Rhythmisierung des Textes und die Rhythmisierung des dargestellten Lebensweges werden auf komplexe Weise ineinander verzahnt und kön­nen so in ihrer Interaktion poetisch exploriert werden. Petrarca unterstützt diese ‚musi­kalisch‘-kompositionelle Überlagerung verschiedener Rhythmen dadurch, dass er einer­seits immer wieder das Moment des Gesanglichen betont und andererseits mit der auf­fällig präsenten Semantik des Gehens Schrittbewegungen evoziert, die – wie die neueren psychologischen Rhythmustheorien hervorheben – unmittelbar mit dem Rhythmischen verbunden sind. Dies und seine besondere historische Situation im Ausgang des Mittel­alters machen den Canzoniere zu einem Paradebeispiel für eine (nicht nur) diachroni­sche Untersuchung des Verhältnisses zwischen Rhythmus und Text, genauer der Funk­tionen, die dem Rhythmus beim sprachlich-literarischen Sinnaufbau zufallen und zuge­wiesen werden.

In meinem Beitrag möchte ich diese polyrhythmische Struktur und die Prinzipien ihrer Faktur genauer herausarbeiten und ihre Semantik, Funktionalisierung und histori­sche Bedeutung näher bestimmen. Zu diesem Zweck werde ich neben Petrarcas Dialog mit den wirkmächtigsten frühmittelalterlichen Rhythmus- und Musiktheorien pythago­räischer Prägung (Augustinus und Boethius) vor allem sein Verhältnis zur antiken (anti-pythagoräischen, peripatetischen) Rhythmustheorie des Aristoxenos untersuchen, de­ren Traditionslinie bei gängigen Darstellungen mittelalterlicher Musiktheorie meist ver­nachlässigt wird. Dies sowie eine Berücksichtigung der jüngsten psychologischen Rhythmustheorien wird nicht nur ein neues Licht auf die Logik und Sinnstruktur des Canzoniere werfen, sondern auch auf die Geschichte der Verhältnissetzung zwischen Rhythmus und Text.